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Jonas Hessling

Freiheit und Vermeidung


Grade suche ich seit etwa 3 Stunden meinen Ausweis. Ich habe Vieles in der Wohnung gefunden. Nicht meinen Ausweis. Ich merke, wie ich wütend werde. Mir schießen Sätze in den Kopf wie „Kein Wunder, wenn man so ein Chaot ist, muss man es halt spüren“´.“ Mir wird heiß. Ich bekomme ein leichtes Pochen an der Stirn und habe Lust nach Schokolade. Ein Teil von mir möchte aufgeben, ein Anderer rastlos die Wohnung auf den Kopf stellen. Dieser Moment ist an sich nichts Besonderes, aber aus der Sichtweise der Achtsamkeit ist er Alles. Wir erleben tausende solcher Momente in unserem Leben. Momente in denen es nicht so läuft, wie wir es gerne hätten.

Die Frage ist, können wir dabeibleiben, während es uns aus den Latschen hebt. Können wir präsent sein, wenn die Wut kommt, die Enge im Brustkorb, die Hitze die uns aufsteigt und ach diese Handlungsimpulse: aufgeben, Selbstmitleid, Rumschreien, Saufen, jemanden anschnauzen oder uns selbst zur Schnecke machen.

Achtsamkeit wurde nicht nur dafür entwickelt, Genuss und Freunde zu erleben und die Schönheit der Welt zu erkennen. Das ist ein Aspekt. Aber Achtsamkeit ist vielleicht sogar noch wichtiger in den Momenten, die richtig schieflaufen.

Pema Chödron, die buddhistische Nonne, sieht in all diesen Momenten die Möglichkeit sein Herz zu öffnen. Es ist die Gelegenheit, das Schiefgehen zu fühlen. Richtig dabei zu sein. Und das Gefühl mit der Achtsamkeit zu umschließen, Mitgefühl zu entwickeln ohne eine akute Lösung finden zu wollen oder sich selbst Hoffnung zu machen. Ohne bis zur Erschöpfung weiter zu machen und ohne aufzugeben. Zuerst nur präsent sein, sich angucken wie unsere typischen Muster und Mechanismen ablaufen. Wie sie sich wie ein Zahnrad in Bewegung setzen. Situation, Emotionen, Gedanken, Reaktionen. Immer Dasselbe.

Achtsamkeit ist somit das Gegenteil von dem Konzept der Experimental Avoidance, bei dem negative Empfindungen vermieden werden. Durch schnelle Reaktion, durch Verdrängungen, Ablenkung oder Leugnen. Greifen nennt der Buddhist dies. Wie nach einem endlosen Seil ohne dauerhaften Halt.

Achtsamkeit wirft dir kein Seil zu. Achtsamkeit bleibt nur. Sie bleibt, wenn der Tod naht, sie bleibt, wenn die Einsamkeit kommt oder der Streit sich ausbreitet wie ein Waldbrand. Und sie wertet nicht. Sie sagt nicht, du solltest dich jetzt nicht beschissen fühlen, weil der Ausweis nicht da ist. Du solltest nicht wütend werden. Es ist ja auch schon da. Aber sie nährt sich den Gefühlen, Gedanken und Empfindungen mit neugierigem Schritt, mit grenzenloser Ehrlichkeit und mit verzeihendem Mitgefühl, damit wir das Drama nicht noch viel größer machen. Damit das Drama seine realistische Form behalten kann.

Warum sollten wir diese Gelegenheiten also nicht nutzen. Sie werden uns sonst nur immer wieder mit dem Lasso einfangen und gefangen halten. Warum also nicht genau hinschauen. Situation. Emotionen. Gedanken. Impulse. Dafür Raum geben. Und dann erkennen wir mit der Zeit vielleicht die Lücken. Wir lassen den Gedanken „Du Idiot!“ weiterziehen, halten nur kurz bei der Wut und spüren den Raum zwischen Impulse und Reaktion, in dem wir die Freiheit haben zu wählen

Genau darum sind diese Momente alles. Der Raum zwischen Reiz und Reaktion. Es sind die Momente, in denen wir die Freiheit lernen. Das größte Geschenk was wir uns schenken können. Und dann finden wir den Ausweis oder wir finden ihn nicht. Die Freiheit bleibt.

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